Mathilde Monnier, Heiner Goebbels: «Surrogate Cities»

Berlin

Die Stadt ist der Inbegriff des Wandels. Sie verändert sich im Stundentakt. Ganze Straßenzüge erkennt man nicht wieder, wenn man das nächste Mal in dasselbe Viertel kommt. «Suddenly things are gone», sinniert es im Libretto von «Surrogate Cities». Die Oper von Heiner Goebbels durchdringt das Dickicht der Städte wie bei einer S-Bahnfahrt durch Stadtviertel und Tageszeiten.

Die Aufführung geht auf eine Initiative von Sir Simon Rattle zurück, der sein Engagement bei den Berliner Philharmonikern davon abhängig machte, dass in jedem Jahr ein Bühnenprojekt mit Künstlern anderer Sparten gestaltet wird. 2008 ist es ein Großvorhaben von Mathilde Monnier. Schon 1998 bestellte sie bei Heiner Goebbels eine Komposition für «Les lieux de là», im Rückblick eines ihrer wichtigsten Stücke. Nun revanchierte er sich mit dem Auftrag an Monnier, die Neufassung von «Surrogate Cities» zu inszenieren.

Sie schickt Kinder, Jugendliche und die Generation der Großeltern in großen Gruppen ins Feld. «Der Einsame hat in der Stadt immer das Nachsehen», heißt es bei Goebbels. In Minuten bemalen sie den dunklen Boden mit weißer Kreide.  Dann bauen die Kinder mit Flaschen, Kartons und Verpackungsmüll ihre eigene symbolische Stadt. Darauf durchkreuzen die Jugendlichen das Dickicht. Und die Großeltern betanzen es paarweise mit Paso doble und Cha-Cha-Cha. Im letzten Bild kreieren sie gemeinsam die urbane Geometrie. «Wer auch immer in der Stadt lebt, schafft sich sein eigenes Bild von ihr, um nicht von der Stadt beherrscht zu werden», sagt Mathilde Monnier.

In nur sechs mal zwei Stunden Proben entstand in Montpellier eine lebendige Metapher der Instabilität – ohne professionelle Tänzer. Die will sie nicht. Außerdem wird in Berlin statt der 14-jährigen Mädchen eine gemischte Gruppe junger Erwachsener auftreten. Dazu kommen zwei Schulklassen aus Kreuzberg, dreißig Senioren aus Salon- und Volkstanzvereinen, Studenten, die Martial Arts praktizieren und dreißig bis vierzig Amateurtänzer der Gruppe Lis:sanga, insgesamt gut 130 Personen, die mit 96 Musikern und zwei Sängern in einen Dialog treten.

Die Überraschung: Monnier spricht deutsch. Seit zwei Jahren möbelt sie für dieses Projekt ihre Schulkenntnisse auf. «Auf jeden Fall kann ich viel verstehen», sagt sie, «Je parle fließend», schon, weil die Verhandlungen mit der Philharmonie achtzehn Monate dauerten.

Die Choreografie genießt ihre Freiheit gegenüber Goebbels’ symphonischer Collage. Auf den Monitoren erscheinen Bilder, der Fernsehturm und Berliner Hochhäuser. «Ich organisiere meine Choreografie in Schichten, vertikal, so wie Heiner Goebbels seine Oper konzipiert hat. Ich habe Vorstellungen von Untergeschossen, von Höhe, und von Generationen.» Dem Brodeln der


Stimmungen von Jazz bis Klassik und Rock stellt sie das Wirken der Stadt auf die einzelnen Generationen zur Seite. Da kommen bei den Kindern Gesten aus der Welt der Erwachsenen, wenn sie wie Trauergäste vor einem Grab stehen. Der Monitor spielt die Rolle einer Partitur, die die Kinder in Echtzeit lesen. «Für mich sind die Kinder wie Musiker. Und es ist ein psychologischer Trick, denn indem sie auf den Monitor schauen, haben sie keine Angst mehr zu versagen, sind ganz einfach sie selbst. Ich mag es nicht, wenn Kinder wie dressierte Affen tanzen.»


Thomas Hahn

Ballettanz

Januar 2008